China First

„Theo Sommer hat den Aufstieg Chinas von der Kulturrevolution zum wichtigsten Akteur des 21. Jahrhunderts persönlich begleitet. ‚China First‘ reflektiert seine profunde Kenntnis des Reichs der Mitte und seine Fähigkeit, kontroverse aktuelle Entwicklungen mit Augenmaß einzuordnen.“ Michael Schaefer, Deutscher Botschafter in Peking (2007-2013)

Die Menschheit erlebt derzeit den dramatischsten geopolitischen, geostrategischen und geoökonomischen Wandel seit einem halben Jahrtausend. Genau genommen ist es die dritte historische Machtverschiebung der neueren Geschichte. Die erste war der Aufstieg Europas, der sich um das Jahr 1500 anbahnte. Die zweite Machtverschiebung setzte Ende des 19. Jahrhunderts ein, als die Vereinigten Staaten auf die Weltbühne traten, die sie dann hundert Jahre lang beherrschten. Heute sind wir Zeugen der dritten historischen Wandlung: einer gewaltigen Verschiebung von Macht und Wohlstand aus dem Westen nach Asien. Nach Asien aber heißt in erste Linie: nach China. Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert Europas, das zwanzigste das American Century. Das 21. Jahrhundert, so denke ich, wird das Chinesische Jahrhundert. Die Chinesen sind schon voll da – als Weltwirtschaftsmacht mit Weltführungsambitionen.

In meinem Buch „China First – Die Welt auf dem Weg ins 21. Jahrhundert erzähle ich die Geschichte des chinesischen Erwachens, schildere das phänomenale Wirtschaftswunder der zurückliegenden vierzig Jahre und beschreibe den unbändigen geopolitischen Ehrgeiz der Pekinger Führungselite. Ausführlich behandle ich Chinas Wirtschafts- und Handelspolitik, seine neue Weltpolitik, sein spannungsreiches Verhältnis zu den USA, Europa, Russland, Indien und Japan, desgleichen die Konfliktherde Südchinesisches Meer, Taiwan und Himalaya-Grenze. Auch gehe ich der Frage nach, wieviel chinesische Aufkäufe unserer Industrie wir gestatten wollen oder können, und natürlich auch der Frage, ob der Handelskrieg zwischen Amerika und China in einen Schießkrieg ausarten kann. Ein Kapitel widme ich auch den deutsch-chinesischen Beziehungen. Meine These ist, dass der Höhenflug Chinas den Westen vor eine beispiellose Herausforderung stellt.

Vor vierzig Jahren hat Deng Xiaoping die Reform der kommunistischen Kommandowirtschaft eingeleitet und China zur Welt hin geöffnet. Seitdem hat die Volksrepublik China einen rasanten Aufschwung genommen. Drei Zahlenangaben mögen die außerordentliche Entwicklung verdeutlichen, die in der gesamten Menschheitsgeschichte nicht ihresgleichen hat.

  • Chinas Bruttoinlandsprodukt lag 1980 bei 191 Milliarden Dollar, 2018 bei 13,600 Milliarden (Versiebzigfachung).
  • Das Prokopfeinkommen betrug 1980 knapp 195 Dollar, 2018 erreichte es $10.088 (Verfünfzigfachung); bis 2021 soll es bis 2021 auf $ 12.000 steigen. Damit bleibt es allerdings noch weiter weit hinter den USA ($53.128) oder Deutschland ($44.769) zurück; weltweit steht es erst auf Rang 75.
  • Der chinesische Export stieg von ganzen 44 Milliarden Dollar 1980 auf 2.600 Milliarden Dollar 2018 (Verfünfzigfachung).

Mit seiner Wirtschaftsleistung überholte China 2009 Deutschland, 2011 Japan, und heute ist es Amerika dicht auf den Fersen.

Der Aufbruch hat China verändert. Das Steinzeit-China, das ich bei meinem ersten Besuch im Jahre 1975 kennengelernt habe, gibt es nicht mehr. Seitdem haben sich 700 bis 800 Millionen der 1,4 Milliarden Chinesen über die Armutslinie hochgearbeitet, die 20 Millionen, die noch in Armut leben, sollen bis 2020 daraus befreit werden. Die Schicht mit mittlerem Einkommen zählt heute bereits 400 Millionen. Inzwischen gibt es 802 Millionen Internetnutzer und 1,2 Milliarden Handybesitzer (l991 waren es ganze 48.000 Telefoneigner). Fernstraßen und Eisenbahnlinien, Häfen und Flughäfen sind modernisiert wie kaum sonstwo in der Welt. Schanghai ist heute mit einem Umschlag von 37 Millionen Standardcontainern der größte Containerhafen der Welt (Hamburg knapp 9 Millionen); von den zehn umschlagstärksten Häfen der Welt sind sieben in China. Mit einem Viertel der Weltproduktion ist die Volksrepublik der größte Automobilbauer und mit 28,1 Millionen verkauften Motorfahrzeugen im Jahr 2018 der größte Automarkt.

Seit 2013 ist Xi Jinping Chinas starker Mann. Xi ist der einzige Staatslenker der Gegenwart, der ein weltpolitisches grand designhat und zugleich eine grand strategy, sie durchzusetzen. Mao Zedong hat China befreit und die alte Ordnung zerschlagen, Deng Xiaoping legte das Fundament einer modernen Wirtschaft, Xi will die Volksrepublik zu einer weltpolitischen Supermacht erheben. Mao machte das Land unabhängig, Deng machte es reich, Xi will es stark machen. Er hat einen ehrgeizigen Traum von Chinas Zukunft, den „Chinesischen Traum vom großartigen Wiederaufleben der chinesischen Nation“. Ihn setzt er beharrlich, ja geradezu besessen in die Wirklichkeit um. Dazu hat er sich eine Machtfülle verschafft, wie sie seit Mao kein chinesischer Führer mehr gehabt hat. Und er hat große Pläne.

Im März 2015 veröffentlichte die Regierung ihren Masterplan „Made in China 2025“. Es ist eine Kampfansage an den Westen, ein gigantisches Aufholprogramm, das die alten Industriestaaten bis Mitte des nächsten Jahrzehnts abhängen soll. Zehn Schlüsselindustrien sollen bis dahin an die Weltspitze gehievt werden. So soll 2025 der Anteil der chinesischen Hersteller an High-Tech-Produkten auf dem einheimischen Markt 70 Prozent erreichen. Dabei greift der Staat den künftigen global championsmit Fördergeldern in Höhe von vielen hundert Milliarden Dollar unter die Arme. Das Projekt hat in den alten Industriestaaten viel Argwohn und Widerstand ausgelöst. Es wird heute nicht mehr erwähnt, aber es wird weiter verfolgt.

Aber auch außenpolitisch hat Xi Jinping mit Deng Xiaopings Kultur der Zurückhaltung Schluss gemacht. Er wirft nun das ganze wirtschaftliche Gewicht der Volksrepublik in die Waagschalen der Weltpolitik. Sein „chinesischer Traum“ von der „nationalen Verjüngung“ Chinas läuft auf die Wiedererlangung seiner verlorenen Größe hinaus. China müsse „Diplomatie als Großmacht“ treiben, ist seine Ansicht. Es müsse sich zur Führungsmacht in Asien aufschwingen und eine „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ aufbauen. Strotzend vor Nationalstolz und Machtbewusstsein verkündete XI Jinping auf dem 19. Parteitag, China nähere sich dem „Zentrum der Weltbühne“. Die chinesische Nation werde eine „Armee von Weltrang“ haben, seine Wirtschaftskraft werde die Oberhand über die internationale Konkurrenz gewinnen. Das chinesische System preist er allen Völkern als nachahmenswertes Beispiel an. Der gesamten Menschheit biete China „weise Ideen für Problemlösungen“ an.

Unter Xi ist China zu einer auftrumpfenden und ausgreifenden Macht geworden. Dass zeigt sich nicht nur in der brutalen Einverleibung von drei Vierteln des Südchinesischen Meers und dem Ausbau von sieben völkerrechtswidrig aufgeschütteten und zu hochmilitarisierten Meeresfestungen. ausgebauten Riffen und Atollen oder in seiner bedrohlich verschärftenSprache gegen Taiwan. Auch sein Jahrhundertprojekt Belt and Road, die mittlerweile weltumspannende Seidenstraßen-Initiative, ist keine Nostalgie-Veranstaltung für Marco Polo, sondern ein groß angelegtes geopolitisches Vorhaben, mit dem sich China vermittels ökonomischer Durchdringung, nicht mit Militär, Einflusssphären rund um den Globus zu verschaffen sucht – auch in Europa. Man könnte seinen Infrastruktur-Kreuzzug auch monetären Imperialismus nennen, fast 1000 Milliarden Dollar stehen dafür zur Verfügung.

Drei Illusionen müssen wir wohl fahren lassen. China bleibt ein autoritärer Staat. Unsere Menschrechtsbelehrungen wird es ungerührt an sich abtropfen lassen: es geht seinen eigenen „Menschenrechtsentwicklungspfad chinesischer Prägung“. Und wie Hubert Lienhard, der scheidende Chef des Asien-Pazifik-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, vor ein paar Wochen bekannte, es wird auch nicht die westliche, nicht vom Staat gelenkte Wirtschaft übernehmen.

Im letzten Kapitel meines Buches versuche ich, eine realistische, pragmatische China-Politik zu entwerfen. Ich empfehle eine Politik ohne Illusionen und ohne Obsessionen; eine Politik der konstruktiven Wachsamkeit; eine Politik der Zusammenarbeit wo möglich und der Auseinandersetzung wo nötig. Die Details muss ich freilich Ihrer Lektüre überlassen.

 

Interview und Besprechung im Hamburger Abendblatt vom 06.03.2019
Interview und Besprechung im Hamburger Abendblatt vom 06.03.2019

 

Cicero, Magazin für politische Kultur, 27. Juni 2019

 



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